Chie Hayakawa hat hier wirklich ein großartiges Worldbuilding durch zahlreiche kleine Details betrieben – kluge Details, die fast schon beiläufig davon erzählen, wie tief dieser Abgrund tatsächlich ist, in den diese Gesellschaft immer noch hineinfällt.
Es ist die verriegelte Tür des Seniorenheims, durch die Besucher:innen erst hereingebeten werden, nachdem sie mit einem Metalldetektor abgesucht wurden. Das wird nicht weiter kommentiert, aber: Zusammen mit der Aufnahme einer Nachrichtensendung ganz zu Beginn des Films, in der von vermehrten Übergriffen auf alte Menschen die Rede ist, ergibt sich ein erschreckendes Bild.
So setzt Hayakawa Stück für Stück ein komplexes Puzzle zusammen, das kaum auf ausbuchstabierte Exposition angewiesen ist. Am Ende steht das Bild eines neoliberalen Fiebertraums, in dem eine vom Staat eingeräumte, vermeintliche Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe durch den Fleischwolf des kaum regulierten Marktes gedreht wird. Individuelle ökonomische Umstände lassen die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Sterbehilfe unfrei werden. Die Privatisierung dieses Geschäfts ist ein Abschied von allem, was wir heute als Zivilisation beschreiben. Die Eskalation ist nicht nur eingepreist, sondern für kapitalistisches Wachstum auch unabdingbar.
Der Film beschreibt das so: Regierung liberalisiert aktive Sterbehilfe ab 75 -> Regierung lässt private Anbieter auf den Markt und reguliert unzureichend -> private Anbieter müssen Wachstum (aka mehr Sterbehilfekund:innen) vorweisen -> es werden Umstände geschaffen, in denen der Tod als Lösung erscheint.
Alte Menschen werden unter dem Vorwand von höherem Risiko für Betriebsunfälle entlassen -> entlassene alte Menschen können sich die Miete für ihre Wohnung nicht mehr Leisten -> Menschen bekommen nicht nur keine günstigere, sondern gar keine Wohnung mehr, weil niemand mehr an Alte vermieten will -> Menschen landen auf der Straße -> private Anbieter sorgen für Anti-Wohnungslosen-Vorrichtungen auf Bänken im öffentlichen Raum -> Anbieter gerieren sich an diesen Orten mit kostenloser Essensausgabe für Bedürftige als Ritter in glänzender Rüstung und haben den unbürokratischen Anmeldebogen für das Sterbehilfe-Paket gleich neben der Suppenkelle liegen.
Plötzlich ist der selbstgewählte Tod also keine freie Entscheidung mehr, sondern zwingend notwendig, wenn man nicht elend erfrieren will. Das mag vielen von uns wie eine dystopische Zuspitzung vorkommen. Aber die im Film vorangegangene verfehlte Sozialpolitik sehen wir auch schon bei uns. Und Rechtsausleger:innen wie ein Carsten Linnemann sprechen bereits unverhohlen davon, dass Rentner zu wenig arbeiten würden. Er gibt ihnen implizit Mitschuld für eine Lage, die aus Politikversagen heraus entstanden ist. Wir befinden uns längst auf dem Weg in eine Welt, wie sie sich Chie Hayakawa hier ausgemalt hat.
★★★★☆
Der Film steht noch kostenlos bis zum 17. August 2025 in der Arte-Mediathek:


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