Kurzfilmfiesta mit Radu Jude

Bei Mubi ist gerade nicht nur Radu Judes großartiger DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD (2023) zu sehen, sondern auch eine Reihe von sonst nur schwer zu bekommenden Kurzfilme, die ich mir nun Stück für Stück über ein paar Wochen hinweg angesehen habe.
The Potemkinists (2022)
Faszinierend, wie viel Politik, Kunst und Gesellschaft in so einen kleinen Film mit letztlich nur einer einzigen Unterhaltung passt. In einem irren Tempo werden hier die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen Rumäniens mit Russland bzw. der einstigen Sowjetunion abgerissen, die absurde Polarisierung gesellschaftspolitischer Diskurse auf die Schippe genommen und die sich verändernde Deutung von (Natur-)Denkmälern innerhalb identitätspolitischer Debatten untersucht.
Semiotic Plastic (2021)
Mein erster Gedanke war: Okay, das ist mir jetzt irgendwie zu simpel gedacht. Mein zweiter Gedanke war: So gut, wie simpel das gedacht ist! Radu Jude ist damit eine kontrastreicher Blick auf die Durchkapitalisierung der Zeit der kindlichen Unschuld gelungen. Er untersucht, wie sie sich verschiedene Komplexe von Konzernen wie Coca-Cola und dem Militär im Kinderzimmer breitmachen, wie rassistische Stereotype reproduziert werden und wie alles Hochglanz und sexy ist, aber nie Sex sein darf.
Caricaturana (2021)
Diese neun Minuten hätte ich mir vor dem erstmaligen Interpretieren einer Karikatur im Deutsch- oder Geschichtsunterricht gewünscht. Denn sie hätten mir gezeigt, dass da noch viel mehr möglich ist als ein Kunstwerk nur im Kontext seiner Entstehungs(zeit) zu betrachten.
Sonderlich überraschend ist das Ergebnis dieses „Experiments" dann jedoch nicht.
The Marshal’s Two Executions (2018)
Ein kritischer Blick auf Sprache, Bilder und die Sprache der Bilder, ein Infragestellen der Realitäten, die dadurch geformt werden und damit auch ein Hinterfragen der eigenen Kunstform.
Shadow of a Cloud (2013)
Ich mag es, wie viel hier losgelöst von Figuren und Plot über Rumänien erzählt wird – über die ökonomischen Verhältnisse, den Zustand des bröckelnden Sozialstaates und über diese eigenartige Zwischenwelt, in der zumindest die Bukarester Gesellschaft zu existieren scheint.
Der Priester scheint eine Art Scharnier zu sein zwischen der alten, in (Aber-)Glaube und anachronistischen Ritualen verhafteten Welt und der neuen Welt, in der ihn das Finanzamt exekutiert, weil „Opfergabe" kein steuerrechtlich zulässiger Begriff auf Zahlungsbelegen ist.
Der Priester ist eine Art geistlicher Uber-Fahrer, dessen Kund:innen die Dienstleistung eines richtigen Taxi-Unternehmens zu Preis einer Tram-Kurzstrecke erwarten, während er ohne jegliche betriebliche Absicherung sich und seinen „Equipment" aufs Spiel setzt.
Es gibt nur Verlierer:innen.
The Tube with a Hat (2006)
Ein sehr raues und doch warmherziges wie empathisches Porträt der rumänischen Menschen abseits der urbanen Zentren und der harschen ökonomischen Realität im ländlichen Raum – und der Liebe zwischen einem Vater und seinem Sohn, die sich trotz aller Widrigkeiten entfalten und ganz selbstverständlich auch in einem derart entbehrungsreichen Leben bestehen kann.
Der kaputte Fernseher steht hier für mehr als nur Zeitvertreib. Der Fernseher ist ein Werkzeug, um an einer Welt teilhaben zu können, die größer als die eigenen bescheidenen vier Wände ist. Um auch Kunst und Kultur genießen zu können.
Aber eben auch – und das ist die Kehrseite der Medaille, die hier ein gehöriges Maß an Ambivalenz produziert – ein Instrument, um die Realität auszublenden. Einerseits ist „Realitätsflucht" sicherlich auch mal notwendig und in einem gewissen Maße sogar gesund. Andererseits: Wer gebannt wie in Trance vor der Röhre sitzt, kann die ökonomischen und die Machtverhältnisse nicht infrage stellen, keine Revolution anzetteln.
Opium des Volkes, diesdas.
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