Also nun auch Neil Gaiman hier im Blog

Also nun auch Neil Gaiman hier im Blog
Neil Gaiman auf der SXSW 2019 // (c) Ståle Grut/NRKbeta unter CC BY-SA 2.0

Ich habe nun ein paar Tage überlegt, ob ich hier im Blog über die an Neil Gaiman gerichteten Vorwürfe hinsichtlich sexualisierter Gewalt, Machtmissbrauch und mehr schreiben soll. Denn zu Gaiman und seinem Schaffen habe ich nur sehr minimale Berührungspunkte. Gelesen habe ich keine seiner Geschichten, geschaut habe ich nur die beiden Staffeln von Good Omens bei Prime Video. Teile seines sonstigen Schaffens sind mir nur bekannt, weil sie eben durch das kollektive Popkulturgedächtnis wabern.

Aber ich setze mich hier im Blog ja einigermaßen konstant kritisch mit Kultur auseinander. Dazu sollten dann auch die Kulturschaffenden, deren Netzwerke und das System™ gehören. Also nun auch Neil Gaiman hier im Blog.

Im vergangenen Jahr habe ich bereits die exzellente Recherche von Paul Caruana Galizia und Rachel Johnson für Tortoise gelesen und anschließend die sechs Episoden des angeschlossenen Podcasts gehört, in denen ein umfassendes und erschreckendes Bild von Neil Gaiman und seinen mutmaßlichen Taten gezeichnet wird.

Danach ist in Sachen medialer Aufmerksamkeit und weiteren veröffentlichten Recherchen erschreckend wenig passiert – bis zum 13. Januar 2025, an dem Lila Shapiro ein unglaubliches Brett von Feature im New York Magazine publiziert hat.

There Is No Safe Word
How the best-selling fantasy author Neil Gaiman hid the darkest parts of himself for decades.

Darin wird ein Mann beschrieben, der sozusagen Wasser predigt und Wein trinkt. Der seine angebliche liberale, reflektierte und ausdrücklich feministische Haltung geschickt als Marketinginstrument einsetzt, aber nur selten zu leben scheint. Der offenbar über Jahrzehnte hinweg seine Macht über ergebene Fans und Frauen in Notsituationen missbraucht hat. Der mutmaßlich vergewaltigt hat. (Diesen Vorwurf bestreitet Neil Gaiman.) Dessen näheres Umfeld, offenbar insbesondere seine mittlerweile Ex-Frau Amanda Palmer, zumindest über einen Teil der mutmaßlichen Übergriffe Bescheid wusste und nichts tat.

When the police contacted Palmer later that year, she declined to talk with them. Gaiman never spoke with the police either, though he did provide a written statement. Whatever feelings Palmer might have had about the situation went into a song she performed on tour in 2024, one she wrote shortly after Pavlovich’s confession. It was called “Whakanewha,” named after a park near their homes on Waiheke. “Another suicidal mass landing on my doorstep — thanks a ton / A few more corpses in the sack / You’ll get away with it; it’s just the same old script / This world is shaped to have your back / You said, ‘I’m sorry,’ then you ran / And went and did it all again.”

Das Schweigen muss für die Opfer ohrenbetäubend sein, die ausbleibende Solidarität desorientierend.

Lila Shapiros Text ist keine leichte Lektüre. Er ist lang, er ist explizit und darin mitunter extrem belastend. Christiane Eickmann bringt bei Bluesky in einem Thread auf den Punkt, wie zumindest die Aufmachung der Rechercheergebnisse auch kritisch gesehen werden kann.

🧵Der jüngste Artikel über #NeilGaiman lebt als Albtraum in meinem Kopf. Er ist wahnsinnig gut recherchiert und zeigt Mechanismen von Missbrauch und Mittäterinnenschaft auf. Er ist wichtig und liegt mir doch im Magen. In Deutschland werden Quellen in der #metoo -Berichterstattung …

Christiane Eickmann (@fraueickmann.bsky.social) 2025-01-14T15:17:27.106Z

Wie also nun weiter? Ich verfahre immer so: Ein Kunstwerk gehört, sobald es einmal in der Welt ist, dem Publikum und nicht mehr den Künstler*innen. Die Deutungshoheit liegt bei uns. Niemand kann uns vorschreiben, was das Kunstwerk bedeutet, provozieren will oder auslösen möchte – auch die Schöpfer*innen nicht. Neil Gaimans Geschichten waren in einem finsteren Moment deines Lebens wichtig? Das dürfen sie auch weiterhin sein. Die Wirkung der Kunst auf dich kann dir niemand nehmen.

Was ich jedoch ganz sicher nicht tun werde, ist weitere Zeit und vor allem Geld in die Werke Neil Gaimans zu investieren. Ihn jetzt noch finanziell weiter profitieren zu lassen, während er seinen Reichtum anscheinend auch zum Missbrauch seiner Macht eingesetzt hat, kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Denn so trage ich auf Kosten der Opfer weiter dazu bei, dass der mutmaßliche Täter nicht nur ohne wirkliche Konsequenzen davonkommt, sondern arbeite ebenfalls mit an der Verfestigung seiner übermächtigen Position.