Gesehen: I’m Still Here (2024) - Grenzerfahrung mit Würde
FilmkritikWalter Salles geht inszenatorische Wagnisse ein, nimmt seinen Figuren nie die Würde und kommt einfach nicht zum Ende.
Walter Salles geht mehrere inszenatorische Wagnisse ein. Er kontrastiert zum Beispiel den Kern der Geschichte mit der vorherigen Familienidylle, wie sie im Bilderbuch steht. Doch das ist nie effekthascherisch angelegt, nie auf den reinen Knalleffekt abzielend, sondern immer organisch und damit glaubwürdig ineinander übergehend.
Gewagt ist auch die Entscheidung, die politischen Dynamiken, die hier am Werk sind, nur sehr grob auf die Leinwand aufzutragen und sich stattdessen sehr klar auf die Menschen zu konzentrieren. Der brasilianischen Militärdiktatur wird dadurch nie die Hoheit über diese Geschichte überlassen, ohne die Abscheulichkeiten des Regimes verharmlosend in den Hintergrund zu stellen.
Letztlich ist es gar nicht entscheidend für diesen Film, dass wir erfahren, wer sich jetzt wie genau und aus welchen politischen Gründen gegen das Militär und dessen verquere Ideologie im Widerstand engagiert. Entscheidend ist, dass Menschen mal mehr und mal weniger wahllos ermordet werden, weil sie nicht in das Weltbild des Militärs passen und für Gerechtigkeit einstehen. Weil sie Menschen sind.
Walter Salles schafft es, die absolut zersetzende Wirkung dieser Grenzerfahrung in seinen Film zu übersetzen, ohne seine Figuren wahl- und ziellos durchs Trauma waten zu lassen, ohne ihnen die Würde zu nehmen und sie zu bloßen Hüllen für unendliches Leid zu verdammen. Er schafft es auch, die absolut dichotome Lebensrealität in einer Diktatur herauszuarbeiten: Denn es gibt ja auch immer einen Teil des Lebens, einen Alltag, der weiter bestritten und gestaltet wird, während das Militär drei Häuser weiter Menschen verschwinden lässt.
Unterm Strich verliert der Film jedoch daran, einfach kein richtiges Ende finden zu können. Alles muss fast schon krampfhaft und übermäßig konstruiert abgebunden werden. Dabei wären Ungewissheiten als Folge unabgeschlossener Erzählstränge gar kein prinzipieller Makel, sondern eine Einladung an uns als Publikum, mit unseren Gefühlen und Fragen zu verharren, statt mit dem Film zusammen den Deckel draufzumachen und fertig.
★★★½☆
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