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Gesehen: DEKALOG (1989) – Krzysztof Kieślowskis moralischer Zyklus

Beeindruckende zehn Stunden, in denen wir als Publikum niemals aus der Verantwortung entlassen werden, in Dilemmas schmoren müssen und mit unserer eigenen Abgründigkeit konfrontiert werden
Gesehen: DEKALOG (1989) – Krzysztof Kieślowskis moralischer Zyklus

Lange habe ich mich nicht an den DEKALOG von Krzysztof Kieślowski herangewagt, obwohl ich seine Drei-Farben-Trilogie in höchsten Ehren halte. Doch jetzt kann ich behaupten, auch diesen zehnteiligen Zyklus in selbigen Ehren zu halten.

Der aktuell in der Wikipedia formulierte Einstieg erschien mir vorher recht schwülstig und vielleicht sogar überzogen.

Dekalog ist ein zehnteiliger Filmzyklus, der im Zeitraum von 1988 bis 1989 für das polnische Fernsehen produziert wurde und sich auf die Zehn Gebote bezieht. Er gilt als Meisterwerk des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski und erregte international viel Aufsehen. Obwohl Kieślowski später durch die Drei-Farben-Trilogie und den Spielfilm Die zwei Leben der Veronika einem breiten internationalen Publikum bekannt wurde, bekam er für Dekalog das größte Echo und Ansehen der Filmkritiker und einen festen Platz im Pantheon des Autorenkinos neben Regisseuren wie Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, Jean-Luc Godard und Andrei Tarkowski.

Jetzt muss ich sagen: Da ist durchaus was dran.

I. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Foto: Absolut Medien

Bei Kieślowski ja eigentlich eine Kritik an fundamentalistischen Denkstrukturen. Denn: Wo ist dein Gott, wenn das unsagbare geschieht? Wo war dein Laplacescher Dämon, als sich plötzlich doch der Boden unter den Füßen auftat?

Nur das Chaos ist allmächtig.

II. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.

Foto: Absolut Medien

In seinem Streben nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme manövriert sich der Mensch in (moralische) Sackgassen. Das Denken in Absoluten, das Verlangen nach lückenlosen Erklärungen, das Träumen von einer dogmatischen Welt und das Herbeisehnen einer einfachen Existenz in einer immer komplexeren Welt sind nachvollziehbar menschlich, fatalistisch und selbstzerstörerisch zugleich.

III. Du sollst den Sabbat heilig halten.

Foto: Absolut Medien

Die Welt, in der sich die Menschen zunehmend ins Private zurückziehen, findet zwingend eine Entsolidarisierung, Entfremdung voneinander und Vereinsamung statt. Gemeinschaft ist etwas, das simuliert wird und immer weniger tatsächlich existiert. Und wer sich ins falsche Leben zurückgezogen hat, wird irgendwann feststecken, weil der Weg zurück in die solidarischen Arme einer Gemeinschaft längst versperrt ist.

IV. Du sollst Vater und Mutter ehren.

Foto: Absolut Medien

Hier wird auf transgressive Art und Weise der Familienbegriff auf die Probe gestellt. Wo verlaufen dessen Grenzen? Welche Faktoren bestimmen, wer zu einer Familie wird, wer Familie ist und wer aufhört, Familie zu sein? Und welche Rolle spielt darin die Moral?

Die Nummer IV lässt mich nun zum ersten Mal innerhalb der Reihe ohne klaren Gedanken zurück. Vielmehr wirkt es so, als ob Kieślowski eine Bombe in den Raum wirft, verschwindet und uns als Publikum mit der Explosion und dem anschließenden Chaos zurücklässt.

V. Du sollst nicht töten.

Foto: Absolut Medien

Die längere, als A SHORT FILM ABOUT KILLING bekannte Schnittfassung hatte ich vorher schon gesehen:

Ein kurzer Satz zu EIN KURZER FILM ÜBER DAS TÖTEN: Krzysztof Kieslowski ringt hier eindrücklich mit der Natur des Menschen, dessen Trieben, Recht und Gerechtigkeit. (Und ich mit der Vignettierung.)

Wahrscheinlich hat mir das dabei geholfen, meinen Blick nun für weitere Aspekte zu weiten und andere Themen auf mich wirken zu lassen.

Jedenfalls ging mir jetzt die starke Vignettierung viel weniger auf den Geist, weil sie mich nun ein wenig an die Verengung der Perspektive hat denken lassen, die jeder Mensch automatisch vornimmt, wenn er etwas in den Blick nimmt. Eine Entscheidung, etwas bestimmtes wahrzunehmen ist gleichzeitig auch immer eine Entscheidung, andere Dinge nicht wahrzunehmen. Ein Teil der Welt wird immer ausgeblendet.

Außerdem ist mir jetzt viel mehr der symbolische Einsatz der Farbe Rot aufgefallen. Da ist die junge Lieferantin, die mit ihrer roten Jacke im grau-braunen Einheitsbrei der heruntergekommenen Sozialsiedlung total hervorsticht. Da ist das Mädchen – ebenfalls mit roter Jacke –, das durch das Fenster des Cafés dabei zu sehen ist, wie es herzlich lacht wie niemand sonst im Film.

Diese Verknüpfung der Farbe Rot mit Sehnsucht, Hoffnung und Wehmut ist später popkulturell etwa auch in SCHINDLER'S LIST oder THE MATRIX verhaftet.

VI. Du sollst nicht ehebrechen.

Foto: Absolut Medien

Die längere Schnittfassung, A SHORT FILM ABOUT LOVE, kannte ich schon:

Ein zynisches und vielleicht auch gerade deswegen so tolles voyeuristisches Machtspiel über Begierde, Verführung, Sex, Sehnsucht, Liebe, Hoffnung und Träume. Krzysztof Kieślowski setzt das Kaninchen vor die Schlange und nimmt Wetten an.

Der Fernsehfassung fehlt es eindeutig etwas an Raum zum Atmen. Die Anordnung fühlt sich so viel forcierter und behaupteter an.

Trotzdem hat sich für mich noch mal eine Facette hervorgetan, die ich zumindest beim letzten Mal nicht schriftlich festgehalten habe: Hier geht es natürlich auch um Geschlechterrollen und -verhältnisse.

VII. Du sollst nicht stehlen.

Foto: Absolut Medien

Wie wird man Mutter – qua Blut oder qua Handeln entsprechend einer Mutter? Oder gibt es hier am Ende gar keine eindeutige Antwort?

Letztlich geht es hier doch um die Absolutheit von Regeln, Normen und Erwartungen. Über das endgültige Verwehren von Chancen, Rehabilitation und dem Übernehmen von Verantwortung im Widerspruch zu einer Welt, in der Ethik und Moral eigentlich permanent neu verhandelt werden bzw. werden müssen.

Auch im siebten Kapitel des Dekalogs bleibt es beeindruckend, wie viel hier auf einem derart engen Raum zusammenkommt, ohne dass ein Schleudertrauma produziert wird. Stattdessen entfaltet sich sie Figurenanordnung vor uns wie das Fraktal einer Mandelbrot-Menge mit immer neuen Details in immer neuen Schichten hinter immer neuen Ecken.

VIII. Du sollst nicht falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten.

Foto: Absolut Medien

Ein verzwacktes Was-wäre-wenn-Spiel in Kombination mit Rückschaufehlern und gewissermaßen auch einem Präventionsparadox. Kieślowski zelebriert den Zustand des Unauflösbaren, aber auch das Anerkennen des Menschseins des jeweiligen Gegenübers. Denn darin liegt die zukunftsgerichtete Hoffnung.

Und ich habe den Eindruck, dass sich das auch im Color-Grading dieser Episode spiegelt. Zum ersten Mal im Dekalog hatte ich das Gefühl, mich nicht in einer grauen und folglich ausweglos elenden Welt wiederzufinden. Hier sind die Farben viel gesättigter, intensiver, klarer und breit gefächerter als bisher.

IX. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.

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Ein gelungenes Venn-Diagramm aus Liebe, Eifersucht und Obsession. Und die Erzählung von einem Mann, der alle drei Teilmengen als ein und dasselbe begreift. Der emotionale Gewalt anwendet, der manipuliert und seine Frau in eine psychische Abhängigkeit treibt. Das ist keine Liebe, sondern Versklavung.

X. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

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Einem Leben nachzutrauern, das einem angeblich vorenthalten wurde, ist vergiftete Trauer. Es ist keine Trauer nach dem Tod eines Menschen, sondern die Wut darüber, dass angebliche Ansprüche verwehrt wurden.

Aus dieser Wut wird schließlich Neid – Neid auf die Version seiner selbst, die vielleicht hätte sein können. Dieser Neid verunmöglicht es, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen, im Moment zu leben oder sich selbstwirksam eine Zukunft vorzustellen.