Kinotagebuch: Anora (2024)
Und die Moral von der Geschicht'? Milliardäre verbieten!
Sean Baker entzaubert den Cinderella-„Mythos" auf seine Art, die sich nicht auf den bereits ausgetretenen Wegen bewegt. Es geht hier nicht um zwei Figuren, die allen Widrigkeiten zum Trotz die Ketten ihrer bisherigen Leben sprengen, um miteinander sein zu können. Es geht um Macht als unweigerliche Konsequenz aus Geld. Wer Fuck-You-Money hat, wird sich folgerichtig irgendwann entsprechend verhalten. Ab einem gewissen Betrag wird das Konto zu einem Schwarzen Loch, dessen Hunger weder Licht noch Macht entkommen können.
Sean Baker hat sich auch hier die große Empathie gegenüber seinen Figuren bewahrt. Er begegnet ihm, von seinen Eltern kaum als Mensch behandelt und doch eisern in deren Griff, voller Mitgefühl und zieht ihn doch für sein Verhalten zur Verantwortung. Denn wieder jeder andere Mensch ist in letzter Konsequenz nur er für sein Handeln verantwortlich.
Sie als Sexarbeiterin wird wie von Sean Baker gewohnt niemals von oben herab behandelt und nicht als Opfer gezeichnet, das „gerettet" werden muss. Gleichzeitig ignoriert Baker jedoch auch nicht den ökonomischen Druck, unter dem sie zu stehen scheint, und deutet auch eine traumatische Erfahrung aus der Vergangenheit an. Diese nicht klar zu benennen, ist genau die richtige Entscheidung. Denn so wird diese Figur nicht durch ihr Trauma definiert und darauf reduziert. Sie bekommt die Chance, in unseren Augen ein vollwertiger Mensch zu bleiben.
Darüber hinaus wünsche ich mir von Sean Baker so langsam mal etwas mehr ästhetische Variation. Seine bewährten Tracking-Shots mit leicht fischäugigen Objektiven laufen Gefahr, in absoluter Formelhaftigkeit zu enden. Gleichzeitig kann ich mir Bakers Filme aber nur schwer ohne vorstellen. Denn diese Shots sorgen nämlich auch für eine sich sehr organisch anfühlende Leichtigkeit der Bilder, für etwas Unmittelbares, ohne gleich Found-Footage zu sein.
Unbestreitbar gut bleibt Sean Bakers Casting. Einerseits setzt er auf Schauspieler:innen mit noch kleinen Filmografien und bietet ihnen die Möglichkeit, sich ihrer selbst und ihres Images zu ermächtigen, bevor das andere für sie tun. Nach HYTTI NRO 6 auch Yura Borisov und nach LEVIATHAN auch Aleksey Serebryakov wieder auf einem neuen Spielfeld mit internationaler Beachtung zu sehen, hat mich sehr gefreut.
Und der Soundtrack ist absolut killer.
★★★★☆