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alle Kurzkritiken im Rahmen der 6th Annual Letterboxd Season Challenge: 2020-21

  • 🎬 LSC6: The Last Black Man in San Francisco (2019) – Blick unter den progressiv gemusterten Wolfspelz

    Die Challenge in dieser Woche ist, einen bisher ungesehenen Film aus 2019 zu schauen, der noch auf der Watchlist steht.


    Joe Talbots THE LAST BLACK MAN IN SAN FRANCISCO verhandelt in erster Linie die Frage, was eigentlich als Vermächtnis gelten kann – materielle oder immaterielle Werte? Und das passiert alles vor dem Hintergrund der Gentrifizierung. Denn dieser Prozess ist nicht nur „Bäumchen, wechsle dich“ auf dem Wohnungsmarkt, sondern letztlich Regression im progressiv gemusterten Wolfspelz. Verdrängt werden nämlich nicht nur im Verhältnis finanzschwächere Menschen, sondern damit auch gesellschaftliche Entwicklung und individuelle Geschichte. Und das führt letztlich zu noch mehr Monokultur und Segregation in der Gesellschaft. Es verhindert ein Zusammenwachsen nicht nur auf allen Ebenen, es fördert es sogar.

    THE LAST BLACK MAN IN SAN FRANCISCO zeichnet ein warmherziges Porträt einer Stadt, die sich von sich selbst entfremdet hat und dabei in Kauf genommen hat, dass ihr Herz, ihre Einwohner*innen unter die Räder kamen. Es ist eine (Stadt-)Gesellschaft, die sich ob der Perspektive vermeintlich großen Wohlstands selbst gefressen und wieder ausgespuckt hat.

    Und so schwer die dem Film zugrunde liegenden Themen letztlich sind, so beschwingt ist gleichzeitig die Leichtigkeit, mit der Talbot seine beiden Hauptdarsteller Jimmie Fails und Jonathan Majors derart grandios durch eine solche emotionale Dichte dirigiert. Beide stellen für das Publikum die Fragen, wer eigentlich die Früchte der eigenen Arbeit erntet. Was passiert, wenn das eigene Vermächtnis nicht mehr als anderer Menschen Eigentum ist. Was bleibt dann übrig? In THE LAST BLACK MAN IN SAN FRANCISCO ist es eine zu Tränen rührende, innige Freundschaft. Ein Band, das kein materielles Gut dieser Welt zertrennen könnte. Eine Freundschaft, die mit jeglichen konservativen Erwartungen an Männlichkeit bricht und daran wächst.



  • 🎬 LSC6: I Killed My Mother (2009) – Ex­er­zi­ti­um des Undenkbaren

    Die Challenge in dieser Woche ist, einen bisher ungesehenen Film von Xavier Dolan zu schauen.


    Xavier Dolan ist ein Mensch, der viel intensiver und klarer als andere in seinem Alter fühlt. Er agiert introspektiver und gepaart mit seinem fast schon unverschämten Talent als Filmemacher ist er ein sprichwörtliches Geschenk des Himmels. Er lässt sein Publikum in Regionen vorstoßen, in die sich niemand alleine vortraut, geschweige denn die emotionale Ausrüstung dafür hat. In I KILLED MY MOTHER bewegt er sich auf Augenhöhe mit seinem von ihm selbst gespielten Protagonisten mit der Weisheit, jedoch nicht der Verbitterung oder alternativ auch rosaroten Brille eines wesentlichen älteren Filmemachers.

    I KILLED MY MOTHER ist die Geschichte von bedingungsloser Liebe, einer naturgegebenen Verbindung zweier Menschen, zwischen denen die Kluft immer größer wird. Der hormongeschwängerte und immer weiter eskalierende Konflikt zwischen einem Teenager und seiner Mutter mag pubertäre Normalität sein, die irgendwann einer erwachseneren Beziehung den Weg frei macht.

    Aber im Hinterkopf macht sich die quälende Frage breit: Was ist, wenn der Bund doch reißt? Wenn Bedingungslosigkeit plötzlich von Forderungen untergraben wird? Xavier Dolan exerziert das Undenkbare durch. Denn wenn er als Hubert regelrecht animalistisch „Hör auf, mich zu lieben!“ seiner Mutter entgegenbrüllt, scheint das seinen Ursprung an einem Ort zu haben, zu dem querschlagende Hormone erst gar nicht durchdringen können.

    Es ist ein Ort, den wir alle irgendwann einmal besuchen – und zwar in Rage. Eine Rage, die die Perspektive so lange einengt, bis nicht viel mehr als ein Tunnelblick übrig ist. Eine Rage, die uns wie ein pubertierender Teenager aussehen lässt. Der Weg zurück mag schwer sein, aber er lässt sich bestreiten. Doch das ändert nichts daran, dass die Gefühle, die ausgetragenen Konflikte echt sind und bewältigt werden müssen – völlig unabhängig davon, ob sie in rationalen Ursachen begründet sind oder nicht.



  • 🎬 LSC6: Sabrina (1954) – Ein altes Disney-Märchen

    Die Challenge in dieser Woche ist, einen bisher ungesehenen Film zu schauen, für den Edith Head einen Oscar für Bestes Kostümdesign gewonnen hat.


    SABRINA beginnt wie die Einführung eines alten Disney-Märchens – mit schöner Bildkomposition und einem Voiceover, das von Anfang an die Rollen der Charaktere zementiert. Doch der Film erliegt eben leider auch den Lastern eines alten Disney-Märchens, indem er Sabrinas (Audrey Hepburn) Selbstwert von der Zuwendung eines Mannes abhängig macht.

    Fast zwei Stunden lang dabei zuzuschauen, welcher der beiden Buhler sich nun für Sabrina entscheidet, ist nicht sonderlich interessant oder unterhaltend. Billy Wilders Drehbuch spielt zwar vermeintlich mit dem Aufbrechen klassengesellschaftlicher Normen, indem sich die reichen Schnösel in die Mauerblümchen-Tochter des einfachen Chauffeurs verlieben. Doch letztlich versagt das Skript darin, aus Sabrina eine wirklich eigenständige, dreidimensionale und vielschichtige Frau zu machen. Sabrina verkommt zu einer Art Handelsware, der nur scheinbar Entscheidungsmöglichkeiten eingeräumt werden.

    Natürlich ist es einfach, einen Film der 50er unter diesen Gesichtspunkten zu kritisieren. Aber das macht es nicht weniger notwendig. Trotzdem bleibt SABRINA ein zumindest fantastisch aussehender Film, der als Produkt seiner Zeit angenehm seicht unterhält.



  • 🎬 LSC6: The Savages (2007) – Wie ein vertrautes Nest

    Die Challenge in dieser Woche ist, einen bisher ungesehenen und in einer der Top-10-Listen von YourMovieSucks auftauchenden Filme zu schauen.


    Mit THE SAVAGES streicht Tamara Jenkins wunderbar heraus, wie viel Unbeholfenheit in unser aller Leben steckt und in wievielen absonderlich-komischen und gleichermaßen tragischen Situationen diese durchscheint – etwa, wenn Laura Linney und Philip Seymour Hoffman mit ihrem Vater über dessen für das Pflegeheim benötigte Patientenverfügung sprechen. Doch der kann aufgrund seiner fortschreitenden Demenz die Situation jedoch nicht mehr komplett verstehen und wundert sich stattdessen darüber, welches Hotel denn ein solches Dokument verlangt. Dann ist das gleichzeitig tieftraurig und urkomisch.

    Es ist die gleiche komische Tragik, in die Jenkins später mit PRIVATE LIFE und dem Leben eines Paares eintaucht, das versucht, durch künstliche Befruchtung ein Kind zu bekommen. Die Filmemacherin konfrontiert ihre ProtagonistInnen permanent mit ihrer eigenen Vergänglichkeit, ohne sie in Lebensgefahr zu bringen – in THE SAVAGES mit dem letzten noch lebenden Elternteil, das langsam aus dem Leben schwindet und dem damit verbundenen Gefühl der Machtlosigkeit.

    Das vermischt Jenkins mit einer unterliegenden Melancholie und fast schon romantisierten Erinnerungen, die gleichzeitig schmerzen und sich wie ein vertrautes Nest anfühlen.

    Jenkins hat es gemeistert, alltäglichliche Momente und normale (≠ kleine) Probleme so zu zeigen, wie sie sich für uns alle in ähnlichen Situationen anfühlen: außergewöhnlich, monumental und überwältigend. THE SAVAGES wird deshalb zu großartiger Kunst, weil der Film einfühlsam und tief aus unserer Seele schöpft, uns gleichzeitig Einzigartiges und Vertrautes fühlen lässt.



  • 🎬 LSC6: Joint Security Area (2000) – Das Politische im Privaten

    Die Challenge in dieser Woche ist, einen bisher ungesehenen Film von Katie Rifes „Korean Cinema Homework“-Liste zu schauen.


    JOINT SECURITY AREA wartet mit den dümmsten Expositionsdialogen auf, die ich je bei einem respektablen Filmemacher wie Park Chan-wook gesehen habe. Und trotzdem schafft es der Film, mich auf seine Seite zu ziehen. Denn interessant wird der Film, sobald er aus dem großen Konflikt ins Private rutscht und so unmissverständlich klarmacht, dass auch das Private politisch ist.

    Gleichzeitig kann das scheinbar versöhnliche, wenn auch tragische, Ende im Privaten kein Happy End auf der übergeordneten Bühne sein. Denn wenn Versöhnung zu etwas geworden ist, dass man unter Einsatz seines Lebens vertuschen muss, scheint jede Hoffnung durch die entmenschlichte Lage im Keim erdrückt zu werden.

    Die Frage ist, ob sich ein Konflikt, der schon so lange schwelt, überhaupt noch lösen lässt. Ob es ein Licht am Ende des Tunnels geben kann, wenn beide Seiten scheinbar bereits vergessen haben, wo der Hass seinen Anfang nahm. Ob man jemals wieder mit klarem Blick auf eine Realität schauen kann, die mit Propaganda bis zur Unkenntlichkeit verbogen worden ist.

    Und damit spielt auch JOINT SECURITY AREA gekonnt – indem uns der Film vermeintlich Flashbacks zeigt, von denen nicht klar ist, ob sie Wunschvorstellung, Realität oder von Propaganda durchkrochene Erinnerungen sind.

    Somit bleibt ein maximal diffuses Gefühl der Hoffnung zurück, weil der Film letztlich auf die Menschlichkeit wettet.